Wenn die Newsletter-Ausgabe, in der diese Kolumne erscheint, verschickt wurde, hat Deutschland bereits einen neuen Bundestag gewählt. Während ich diese Zeilen schreibe, belehrt der US-amerikanische Vizepräsident Vance Europa gerade in München über seine Vorstellungen von Demokratie. Unsere Messewirtschaft ist auf offenen Welthandel, Toleranz und stabile Verhältnisse angewiesen. Unser Wohlstand, unsere Freiheit und unsere Sicherheit wohl auch. Die Frage ist also: Gehen wir die Zeitenwende jetzt an oder versuchen wir weiterhin, die Zeit zu wenden? (Bild: geralt/Pixabay)
Eine frühere Ausgabe dieser Kolumne hatte ich mit dem Titel „Prokrastinieren kann ich ja auch noch morgen“ überschrieben. Wikipedia beschreibt Prokrastination als eine Störung, „die durch ein unnötiges Vertagen des Beginns … von Aufgaben gekennzeichnet ist, sodass ein Fertigstellen nicht oder nur unter Druck zustande kommt.“ In Europa scheint uns das gerade auf die Füße zu fallen, denn trotz überdeutlicher Warnsignale haben wir weder unsere sicherheits- noch unsere klimapolitischen Hausaufgaben gemacht. Ganz ähnlich ging es uns übrigens als Messewirtschaft, als wir angesichts aufgeschobener Digitalisierung durch Corona mit quasi abgesägten Hosen dastanden.
Für manche ist aktives Ausblenden allerdings ein politisches Geschäftsmodell. Sie wiegen die Bevölkerung in trügerischer Sicherheit, es werde schon alles nicht so schlimm kommen. Sie versuchen, die Zeit zu wenden, hin zur guten alten Vergangenheit, in der die Welt noch in Ordnung war. Bloß keine Zumutung, bloß die Mühen der Ebene nicht ansprechen, es könnte einen ja den Zugang zur Macht kosten. Stattdessen sollen die Errungenschaften einer offenen, freiheitlichen Gesellschaft geschliffen werden: Konfrontation statt Kooperation, das Recht des Stärkeren statt Ausgleich zum Wohle aller. So kommt die Zeitenwende eben auch daher, und sie ermuntert Despoten unterschiedlichster Couleur, ihre Fantasien auszuleben.
Der Sicherheitsexperte Frank Sauer warnt in einem Interview mit dem Fernsehsender ntv vor einer unangenehmen Realität: „Die USA sind kein verlässlicher Partner mehr. Ökonomisch sind wir aktuell auf Konfrontationskurs. Und wenn die US-Demokratie wirklich gänzlich fallen sollte …, dann haben wir es plötzlich auf der anderen Seite des Atlantiks nicht mehr mit einem Partner, sondern mit einem zweiten systemischen Rivalen zu tun. Zusätzlich zu China. Und zusätzlich zu einem Russland, das Appetit beim Essen bekommen hat und sich in den kommenden Jahren häppchenweise noch ein paar mehr Stücke aus Europa herausbeißen will.“
Was braucht es noch, damit wir verstehen, dass wir keine Zeit mehr zu verlieren haben? Dass wir die kritischen Punkte unserer Bündnis- und Verteidigungspolitik jetzt zügig und mit größtem Einsatz in Ordnung bringen? Der gerade verstorbene Alt-Bundespräsident Horst Köhler musste seinen Hut nehmen, weil er sich erlaubt hatte festzustellen, dass wir unsere Interessen notfalls auch mit militärischen Mitteln wahren müssen. Es wurde ihm seinerzeit als Tabubruch zugunsten von Großkonzernen oder der Rohstoffversorgung ausgelegt. Ob ihm wohl heute wenigstens eine Debatte zugestanden würde?
Wir als Messewirtschaft sind nicht nur auf freien Welthandel und ein Mindestmaß an internationaler Verlässlichkeit angewiesen. Wir sind auch eine Plattform, die genau das fördert und unterstützt. Wir fördern Verständnis füreinander, helfen Bedürfnisse und Haltungen transparent zu machen. Wir knüpfen konstruktive Netzwerke, die wiederum Stabilität in internationalen Beziehungen unterstützt. Im Sinne eines ‚Responsible Leadership‘ tragen wir Verantwortung für die Zukunft einer freien, gerechten Weltordnung. Daran sollten wir jetzt ganz bewusst festhalten und sie auch von anderen gesellschaftlichen Kräften einfordern.